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An Männerbiografien orientiert, von Frauen miterstritten: Die Altersvorsorge in der Schweiz

Bereits im Landesstreik von 1918 war eine Altersversicherung neben dem Frauenstimmrecht eine der zentralen Forderungen der Arbeiter und Arbeiterinnen gewesen. 1947 trat die Alters- und Hinterlassenenversicherung AHV schliesslich in Kraft. Sie gilt als «Jahrhundertwerk». In den Jahren des Wirtschaftsaufschwungs wurde das Altersvorsorgesystem weiter ausdifferenziert: 1972 wurde das bis heute geltende Dreisäulenprinzip beschlossen und zugleich ein Ausbau der AHV als eine «Volkspension» an der Urne verworfen. Das zugehörige Gesetz trat 1985 in Kraft: Nun wurde bei einem Lohn über einer definierten Einkommensschwelle neben der AHV (sog. «erste Säule») auch die Versicherung durch eine Pensionskasse (PK) obligatorisch (sog. «zweite Säule»). Ergänzend dazu kann seither, wer es vermag, mit Spareinlagen freiwillig und steuerbevorzugt in der «dritten Säule» fürs Alter vorsorgen.

Geschaffen wurde die Altersvorsorge zur Sicherung der Existenz im Alter sowie im Fall von Verwitwung. Die Witwenrente kam zunächst nur Frauen zugute, wobei es ausgerechnet Frauenorganisationen waren, die als Erste eine Absicherung auch für Witwer forderten. Der Ruhestand als Lebensabschnitt entstand. Was die finanzielle Absicherung betrifft, gestaltet sich der Ruhestand aber bis in die Gegenwart ausgesprochen ungleich: Heute erhalten Frauen insgesamt rund einen Drittel weniger Rente als Männer (ca. 20’000 Franken weniger pro Rentnerin und Jahr). Die Einbussen entstehen den Frauen heute hauptsächlich in der zweiten und dritten Säule. Unter den Personen ohne Pensionskassenanschluss stellen sie die überwiegende Mehrheit dar. Entsprechend werden die 1965 eingeführten Ergänzungsleistungen (EL) hauptsächlich von Frauen bezogen.

Die Rentenlücke der Frauen fusst zum einen auf ihren Tätigkeiten in gering entlohnten Berufen und auf direkter Lohndiskriminierung, zum anderen auf der von Frauen häufig geleisteten Teilzeitarbeit und auf Erwerbsunterbrüchen infolge von Mutterschaft und Familien- bzw. Sorgearbeit. Denn die Altersvorsorge orientierte sich seit Beginn an einer männlichen «Normalerwerbsbiografie». Hauptsächlich von Frauen erbrachte, unbezahlte Haus- und Betreuungsarbeit sichert sie nicht direkt ab, mit Ausnahme der 1994 beschlossenen Erziehungs- und Betreuungsgutschriften in der AHV, welche aber nur einen geringen Ausgleich schaffen. Hohe Eintrittshürden (Eintrittsschwelle für die PK, Koordinationsabzug) verunmöglichen zudem die Versicherung von Niedrigverdienenden und von Teilzeitbeschäftigten. Die Arbeits- und Einkommensrealitäten vieler Frauen werden so im Altersvorsorgesystem klar vernachlässigt.

Die Frauen- und Geschlechtergeschichte legte die patriarchale Grundstruktur der Schweizer Altersvorsorge offen. Ehemänner erhielten etwa bis zur Einführung des Rentensplitting durch die 10. AHV-Revision Mitte der 1990er-Jahre eine AHV-Rente von 160 Prozent: Die unbezahlte Arbeit der nichterwerbstätigen Ehefrau war darin zwar gewissermassen eingerechnet, die Ehepaarrente wurde aber an den Ehemann ausbezahlt. Dieses System war in der Schweiz beschlossen worden, obwohl bereits früh andere Konzepte bekannt waren, die nichterwerbstätige Ehefrauen eigenständiger abgesichert hätten, so zum Beispiel das Beveridge-Modell. Benachteiligt wurden bis 1997 ausserdem geschiedene, nichterwerbstätige Frauen, denen für die Dauer der Ehe keine AHV-Rente ausbezahlt wurde. Ihr Austritt aus der Ehe wurde finanziell «abgestraft». Auch in der zweiten Säule existierten Diskriminierungsmechanismen wie ein Zwangsaustritt für Frauen bei Verheiratung in vielen Kassen.

Die Positionen, die Frauen und Frauenorganisationen angesichts der zahlreichen und bis heute fortdauernden Revisionen der Altersvorsorge vertraten, sind aus feminismusgeschichtlicher Perspektive von hoher Relevanz. Von Beginn an brachten sie sich aktiv in die Ausgestaltung des Vorsorgesystems ein, zunächst als Lobbyistinnen ohne Stimmrecht, nach 1971 auch als Stimmende und Politikerinnen. Die Abwägungen, die sie treffen mussten, waren komplex – etwa dann, wenn eine Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Frauengruppen ausgelotet werden musste (z.B. zwischen verheirateten, ledigen, geschiedenen und verwitweten Frauen). Das vieldiskutierte Frauenrentenalter – zunächst auf 62 Jahre gesenkt, ab 2001 wieder angehoben – stellt nur den prominentesten Streitpunkt dar. Auch gegen die Benachteiligung geschiedener Frauen, für die Rentenverbesserung erwerbstätiger Frauen mit kleinen Löhnen insbesondere in der zweiten Säule oder für das Rentensplitting von Verheirateten brachten sich Frauen und Frauenorganisationen schon früh vehement ein.

Die Geschichte der Altersvorsorge ist nicht zu Ende erzählt. Genauer untersucht werden könnte unter geschlechter-, frauen- oder feminismusgeschichtlicher Perspektive etwa die Einführung des Bundesgesetzes über die Berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge von 1985. Ebenfalls Stoff für Analysen bieten die jüngsten Debatten und Beschlüsse, die 2022 in einer Heraufsetzung des Frauenrentenalters kulminierten. Die Mehrheit der stimmberechtigten Frauen hatte eine solche abgelehnt. (ca)

Quellen (Auswahl)

Q1: Positionsartikel zur AHV-Einführung, Frontartikel des Bundes Schweizerischer Frauenorganisationen, 1945: «Frauenfragen zur Alters- und Hinterbliebenenversicherung», in: Schweizer Frauenblatt, Organ für Fraueninteressen und Frauenaufgaben, 27 (6), 9.2.1945.

Q2: Zum Pensionskassenobligatorium von 1984, Kritik von Anita Fetz: «Pensionskassenobligatorium: Riesengeschäft auf dem Buckel der KleinverdienerInnen», in: Emanzipation, 10 (9), 1984, S. 16–18.

Q3: «Offener Brief» der Bundesrätin Ruth Dreifuss gegen eine Frauenrentenaltererhöhung (10. AHV-Revision), Tagesschau-Beitrag vom 10.06.1995.

Q4: Diskussionspapier von WIDE Switzerland (Women in Development Europe) zur Rentenreform 2020.

Q5: Kampagne «Hände weg von unseren Renten», Nein zur AHV21 (Abstimmung vom 25.09.2022), www.frauenrenten.ch.

Literatur

www.geschichtedersozialensicherheit.ch

Leimgruber, Matthieu: Solidarity without the State? Business and the Shaping of the Swiss Welfare State, 1890-2000. Cambridge 2008.

Luchsinger, Christine: Solidarität, Selbständigkeit, Bedürftigkeit. Der schwierige Weg zu einer Gleichberechtigung in der AHV, 1939–1980. Zürich 1995.

Peter, Anja: Die Frauenrevision. Gleichstellung in der AHV 1979–1994. Masterarbeit in Neuester Geschichte, Universität Bern, Bern 2011.

Titelbild: www.frauenrenten.ch/fotos-uebergabe/ © Yoshiko Kusano für den SGB