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«Elternzeit». Forderungen nach geteilter Verantwortung in der Kinderbetreuung

Nach der Geburt eines Kindes haben erwerbstätige Mütter in der Schweiz seit 2005 Anspruch auf eine bezahlte Erwerbsauszeit von 14 Wochen, Väter seit 2021 auf eine bezahlte Erwerbsauszeit von 2 Wochen. Damit bildet die Schweiz punkto Elternzeit im europäischen Vergleich das Schlusslicht.

Frauenorganisationen forderten bereits in den späten 1970er Jahren im Rahmen der Volksinitiative „Für einen wirksamen Schutz der Mutterschaft“ eine schweizweit geregelte Elternzeit [Q1]. Die Organisation für die Sache der Frau (OFRA) hatte die Initiative angeregt, verschiedene Interessengruppen arbeiteten an der Ausarbeitung mit. Der Titel der Initiative fokussierte ausschliesslich auf Mütter. Inhaltlich zielten die Initiant*innen aber darauf ab, normierte Geschlechterrollen aufzubrechen und die Verantwortungsbereiche im Bereich der Familienarbeit neu zu definieren. Die Initiant*innen forderten 16 Wochen voll bezahlte Erwerbsauszeit für Mütter und für erwerbstätige Eltern zusätzlich eine Erwerbsauszeit von mindestens 9 Monaten inklusive Kündigungsschutz. Die Elternzeit sollte für die Mutter an den Mutterschutz anschliessen und für den Vater ab dem Zeitpunkt der Geburt beginnen können. Die Versicherungsleistungen für die Elternzeit sollten sich am Einkommen der Eltern orientieren. Die Initiant*innen politisierten Elternzeit als einen nötigen Schritt in Richtung Geschlechtergleichstellung. Die Erziehung der Kinder dürfe nicht zur ausschliesslichen Pflicht der Frauen gemacht werden. Nur wenn die Väter von Beginn an in die Kinderbetreuung miteinbezogen würden, könnten die Zuständigkeiten für Sorge- und Erwerbsarbeit auf beide Geschlechter aufgeteilt und den Frauen eine Teilhabe am Berufsleben ermöglicht werden. [Q2, Q3, Q4] Die damalige Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und spätere Bundesrätin Ruth Dreifuss bekräftigte, die Kinderbetreuung sei eine „gemeinsame elterliche Aufgabe“. Die Gesellschaft habe solidarisch die nötigen Bedingungen zu schaffen, damit die Eltern diese Verantwortung wahrnehmen könnten. [Q5]

In der politischen Debatte zur Mutterschutz-Initiative führten Gegner*innen ökonomische und biologistische Argumente gegen die Elternzeit ins Feld. Der Bundesrat warnte in seiner Botschaft 1982 vor den hohen Kosten und einer möglichen Benachteiligung von Müttern und Vätern auf dem Arbeitsmarkt; Vertreter und Vertreterinnen der FDP platzierten das Thema Kinderbetreuung in den Bereich des Privaten, in den sich die Politik nicht einzumischen hatte, und aus den Reihen der Nationalen Aktion wurde davor gewarnt, dem „Gleichheitsfimmel“ zum Opfer zu fallen. Die Frauen seien qua Biologie nun einmal für Haushalt und Kinder zuständig. [Q6]

Die Initiative „Für einen wirksamen Schutz der Mutterschaft“ wurde am 2. Dezember 1984 mit 84 Prozent abgelehnt. Erst 2004 stimmte die Schweizer Stimmbevölkerung der Schaffung einer Mutterschaftsversicherung zu.

Vorstösse für eine Elternzeit stossen bis in die Gegenwart auf grossen Widerstand und sorgen auch im linken Lager für Auseinandersetzungen. 2021 hatte eine Allianz aus Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen eine Elternzeitinitiative ausgearbeitet, die vorsah, den Mutterschaftsurlaub und den Vaterschaftsurlaub auf je achtzehn Wochen aufzustocken. [Q7] Dagegen wehrte sich die Eidgenössische Kommission dini Mueter. Die feministische Organisation übte Kritik am paritätischen Modell, weil sie die grossen Belastungen durch Schwangerschaft und Geburt ungenügend berücksichtigt fand. Sie setzte sich dafür ein, dass zusätzlich zu einer Elternzeit auch der Mutterschutz deutlich stärker ausgebaut werden sollte. [Q8] Die Elternzeitinitiative wurde nicht verwirklicht, derweil die Sozialdemokratische Partei (SP) auf die Kantone setzte – ebenfalls erfolglos. Im Kanton Zürich lehnte die Stimmbevölkerung im Mai 2022 die SP-Initiative für eine Elternzeit von je 18 Wochen für Mütter und Väter mit einer Zweidrittelmehrheit ab.
Damit bleibt eine gesetzlich geregelte Elternzeit in der Schweiz – wie es eine CVP-Nationalrätin in der Ratsdebatte 1983 ausdrückte – nach wie vor „Zukunftsmusik“. (sb)

Quellen

Q1: Eidgenössische Volksinitiative ‹für einen wirksamen Schutz der Mutterschaft›, https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis136t.h

Q2: R. H., Für einen wirksamen Mutterschutz, in: Emanzipation, Band 3, Heft 5, 1977

Q3: o. A., Mutterschaftsversicherung. Jetzt muss was passieren, in: Emanzipation, Band 3, Heft 6, 1977

Q4: Rita Karli, Wo bleibt der Mutterschutz?, in: Emanzipation, Band 10, Heft 6, 1984

Q5: Ruth Dreifuss, Gemeinsame Verantwortung, in: Gewerkschaftliche Rundschau Band 76, Heft 6, 1984

Q6: Nationalratsdebatte zur Volksinitiative „Schutz der Mutterschaft“ und zur parlamentarischen Initiative Nanchen „Familienpolitik“, in: Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, Sitzungen 12 und 13, Bd. 2, 1983, 439-471. (PDF Band 12 / Band 13

Q7: https://elternzeit-initiative.ch/

Q8: https://ekdm.ch/fur-eine-muttergerechte-elternzeit/